Es ist eine Zeit, wie sie noch niemand vor uns erlebt hat.
Es ist unsere Zeit.
Es ist eine Zeit in der fast alles machbar und vieles möglich ist. Grenzenlose Vielfalt. Und doch scheint es, dass sich gerade die Gesellschaft selbst, immer mehr in Schubladen steckt. Beschriftet, markiert und (ab)stempelt. Vielfalt mit Codierung. Alles darf seinen Platz haben, muss aber erkennbar sein. So wie in grossen Einkaufszentren, wird nichts mehr dem Zufall, der Intuition überlassen. Alles soll sichtbar sein. Lesbar. Mit einem Label versehen. Menschen eingeschlossen. Einerseits ist dies ein verständliches und sogar nachvollziehbares Begehren, andererseits mindert gerade dies in der zwischenmenschlichen Beziehung die Spannung und die Überraschung. Die Neugier und der Entdeckergeist gehen verloren oder werden zumindest geschmälert.
Die wachsende, allesübergreifende Digitalisierung löst das Mitdenken und selbstständige Handeln immer mehr ab. Unter dem kuscheligen Schafspelz, der für Unterstützung und Erleichterung steht, verbirgt sich aber ein grimmig grinsender Wolf. Kontrolle. Überwachung. Abhängigkeit ... vermittelt sein Knurren.
Kommunikation hatte nie so viele Kanäle wie heute. Zumindest ist uns dies so bekannt. Mitteilungen können mit Schrift, Sprache und Bild übermittelt werden. Global. In Sekundenbruchteilen. Die Welt rückt näher zusammen. Digital verbunden. Gelingt es den Menschen mit diesem Tempo mitzuhalten? Jahrhundertealte Traditionen und Kulturen, die in Ländergrenzen gepflegt wurden, prallen urplötzlich aufeinander. Überlagern sich. Grenzen werden digital durchbrochen, in der physischen Welt aber mit Mauern zwischen Nationen aufs Neue bekräftigt.
Wenn sich Menschen nicht verstehen ist die Sprache selbst, selten das Problem. Der angeborene Instinkt will Kontakt herstellen, sei es auch nur in Zeichensprache. Von höheren Instanzen erschaffene Vorurteile und Definitionen von Werten verschleiern diesen Instinkt, die eigene Wahrnehmung. Ein Feindbild wird erschaffen. Für dessen Abneigung fehlen oft eigene Gefühle. Fremdfühlen. Ermöglicht und beabsichtigt durch gezielte Manipulation. Länder- und Generationenübergreifend. Durch die Zeit getragen.
Liebe wird digitalisiert. Ein Menschenleben wird schablonisiert und in ein Profil gepresst. So finden sich dann Profile nach mathematischer Richtigkeit. Liebe nach Algorithmus. Zugeordnet. Liebe nach Konzept und mit prozentual berechenbarer Trefferquote. Lieblos. Leblos. Die erste Berührung geschieht über Sensoren. Touchscreen verlangt Fingerspitzengefühl. Sanftes Streicheln. Die Maschine verlangt Gefühl. Der Mensch vermisst Gefühle und stumpft ab. Verlagerte Aufmerksamkeit. Schmetterlinge flattern in Glasfaserkabeln statt im Bauch.
Die Welt steht offen. Selbst bisher verborgene Paradiese sind erreichbar. Genau ausgemessen. Vermessen. Durch präzise Navigationssysteme werden Zeitverluste eingerechnet und vorgesehen. Die Zeit bestimmt die Reise. Der Weg führt direkt ans Ziel, ohne Irrwege und Sackgassen. «Bitte wenden», auch, wenn man Verweilen möchte.
Der Blick auf das Display führt tief hinein, in den Kaninchenbau unserer Welt. Wir reisen digital in einem Tempo, welches der Lichtgeschwindigkeit nahe kommt. Wir erhaschen mit einem Klick einen Blick auf Inseln, Berge und exotische Orte, die wir noch nie bereist haben ... und es vielleicht auch nie werden. Materielle Dinge in höchster Vielfalt – in allen Preis-Segmenten. Vergleichen. Abwägen. Zugreifen. Verzichten – dürfen und müssen.
Die Digitalisierung eröffnet ungeahnte Möglichkeiten. Alles wird greifbarer und erreichbarer. Nutzen und Missbrauch halten sich die Waage. Die Welt spiegelt sich innerhalb der codierten Matrix, verliert sich in der Berechnung ... echte Wunder finden kaum Platz oder sind geplant und perfekt orchestriert. Kalkuliert.
Man sagt, man müsse über den Tellerrand schauen, um Neues zu entdecken. Diese Redensart kann heute auch heissen: über den Bildschirmrand schauen ... Dort findet man die reale Welt. Sie will immer wieder aufs Neue entdeckt werden. Die analoge Welt ist eine Herausforderung. Situationen und Erlebnisse können nicht weggescrollt oder weggeklickt werden. Hinsehen. Fühlen. Verarbeiten. Durch echtes Spüren der Ereignisse, im Kleinen wie im Grossen. Kommentieren, Kritisieren, Lieben und Loben in gelebter, direkt erlebter Kausalität.
Wenn die digitale Welt zur transparenten Überlagerung unserer Realität wird und mit ihren besten Eigenschaften unser Leben unterstützt aber nicht vernebelt, kann sie von der Gehhilfe zum Begleiter werden.
Kommentar schreiben