«Die Natur eilt nicht und dennoch wird alles erreicht.» Laotse
Die Strasse ist noch feucht vom Regen. Ich gehe zügig über den Fussgängerstreifen und laufe weiter übers Trottoir zum nahe parkierten Auto. Ich verlangsame meine Schritte, da ich zwei kleine Erdenbewohner entdecke, die meinen Weg kreuzen. Schnecken. Eine ist ganz klein und hat ein einfarbiges, blass-gelbes Häuschen, die andere ist etwas grösser und hat ein zweifarbiges, blass-gelb-rostbraun gestreiftes Häuschen. Gemächlich ziehen sie dahin ... aber werden sie den Weg, der quer über die befahrene Seitenstrasse führt, überleben?
Auf ihrem gewählten Weg setzen sich die Schnecken direkten Gefahren aus, die in etlichen Formen lauern – Schuhsohlen, Vögeln und schmalen wie breiten Pneus. Kennen die kleinen Weichtiere ihr Ziel überhaupt? Sie kriechen einfach los auf die andere Seite der Strasse. Vielleicht weil das Gras bekanntlich immer grüner ist auf der anderen Seite ... oder einfach so, weil sie vorwärts gehen und nicht zurück.
«Gemach! Leicht zum Fallen führt das Eilen.» William Shakespeare
Ohne zu wissen, wie ihr Weg verlaufen wäre, greife ich in die Geschichte ein. Ich will die zwei kleinen Wanderer vor den erwähnten, möglichen Gefahren schützen und trage sie auf die andere Strassenseite. Behutsam lege ich die zwei Häuschen, in die sich die Winzlinge verzogen haben, auf einem Mäuerchen ab, das einen Garten von der Strasse trennt.
«Die Ruhe zieht das Leben an.» Gottfried Keller
Ich bleibe in der Hocke und schaue zu, wie sich aus dem kleineren Häuschen langsam und zögerlich Fühler strecken und ihren Weg ertasten. Die kleinere Schnecke entdeckt ihren zweifarbigen Begleiter und klettert langsam und bedächtig auf dessen Häuschen. Dabei ergibt sich durch die zwei schraubenförmig gewundenen Schalen ein kunstvolles Gebilde. Die grössere Schnecke tastet sich auch langsam wieder ins Freie und beginnt ihren Weg fortzusetzen ... den Weg, den ich in bester Absicht abgekürzt habe. Was wird die zwei Reisenden erwarten? Welche Gefahren lauern jenseits der Mauer ...? Ich weiss es nicht. Wissen es die Schnecken? Kümmert es sie? Sie kriechen einfach weiter auf ihrem Weg ... ein Weg, der in einen riesigen Garten voller Möglichkeiten führt.
«Strebe nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht durch den Stillstand deiner Tätigkeit.» Friedrich Schiller
Ab dem Moment, als ich die bewohnten Schneckenhäuschen aufgehoben habe, hat Zeit und Eile nicht mehr existiert. Die Bewegungen der Schnecken haben etwas beruhigendes, meditatives. Nur weil ich meine kleinen Wegkreuzer mit meiner Handykamera festgehalten habe, konnte ich im Nachhinein feststellen, dass ich beinahe zehn Minuten mit ihnen verbracht habe ...
In unserer rasanten, schnelllebigen Zeit gibt es viele Wege zur Ruhe zu kommen. Manchmal verpasst man die Zeitfenster und die Momente ... manchmal schreitet man einfach weiter. Quer durch Tage und Ereignisse – beinahe ohne zu sehen und zu erleben, was genau passiert. Aber Momente zum Innehalten sind immer da. In jedem Augenblick. Man muss sie nur entdecken ... oder sich entdecken lassen.
Entschleunigung hat viele Formen ... manchmal offenbart sie sich in unerwarteter und gleichermassen offensichtlichster Form ... in Form einer Schnecke. Und, wenn es sogar zwei sind, darf man sich wirklich zurücklehnen und alles andere ausblenden. Dankeschön.

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Christine Widmer (Freitag, 15 Mai 2020 06:09)
Schön geschrieben Iwan
Es sind die kleinen Dinge und Begebenheiten, an denen wir uns, zwangsläufig durch die Entschleunigung, erfreuen können und dürfen.
Das ist so viel wert, ich lerne und empfinde das erst jetzt so richtig.
Jwan Reber (Freitag, 15 Mai 2020 15:15)
Herzlichen Dank liebe Christine. Es ist wunderbar, was so zwei kleine Schnecken bewirken können.