Wunderland.

Das Jahr schreitet zügig voran. Die zweite Hälfte hat bereits wieder einen Monat hinter sich gelassen. Das erste halbe Jahr war belebt und voller Ereignisse – im Grossen wie im Kleinen. Die Zeit hat sich verdichtet und lässt die verganenen Monate länger erscheinen. Irgendwie.

 

Geschichten geschehen ... sie werden erlebt, gelebt und hinterlassen Spuren.

Das globale Ereignis hat die brüchige Struktur unserer Gesellschaft verändert – zum Guten wie zum Schlechten. Aber diese Einschätzung wäre auch nur wieder eine weitere Statistik. Die Veränderung geschieht immer noch. Es bleibt eine Wechselwirkung der Energien. Die Menschen befinden sich mittendrin in diesem Fluss, der alles treiben lässt, aber auch mit Strömungen aufwartet. Immer ist es aber auch ein Entscheid, sich treiben zu lassen, oder gegen den Strom zu schwimmen ...

 

«Wenn du nicht weisst, wohin du gehst, wird dich jeder Weg dorthin bringen.» Alice im Wunderland

 

«Gegen den Strom zu schwimmen» wird umgangssprachlich gerne mit Revoluzzern und Rebellion in Verbindung gebracht. Manchmal ist aber «sich-treiben-lassen» viel mehr Widerstand, als gegen den Strom zu strampeln. Sich treiben lassen, heisst nicht, sich kopflos hinzugeben, vielmehr heisst es, herzvoll zu vertrauen. Gelassenes, sanftes Treiben führt immer vorwärts, egal durch welche Gewässer.

 

Egal ob Statistiken und Massnahmen dafür verantwortlich sind – Masken tragen wir alle, ob sie schützen oder nicht. Masken des Geistes. Um unsere Gefühle zu verschleiern, um uns zu schützen, oder einfach um nicht sich selbst sein zu müssen. Je länger man eine Maske trägt umso mehr wird sie zum Gesicht. Die Maske fallen zu lassen, umgeben von Maskierten und Kostümierten, im Karneval des Alltags, braucht Mut. Mut zum eigenen Ich. Maskenfrei. Ungeschminkt.

 

Die Ereignisse der ersten Jahreshälfte, die «Kronen-Zeit», hat Menschen verändert ... oder zumindest ihr Verhalten. Masken stehen nicht mehr nur für Schutz, sondern für Anonymität. Menschen mischen sich ein, mischen mit und mischen auf ... leider auch in Momenten, die keiner Handlung bedarf. Eine latente Aggression unterwandert Alltagssituationen. Es wird weniger kommuniziert, denn reklamiert. Einkaufen wird zum Spiessrutenlauf. Begrüssen wird oft zum peinlichen «wie hättest du’s gerne? Ellbogen oder Schuhsohle?»

 

«Den Schreck dieses Augenblicks werde ich nie vergessen», fuhr der König fort. «Du wirst ihn vergessen», sagte die Königin, «es sei denn, du errichtest ihm ein Denkmal.» Alice im Wunderland

 

Wenige Monate haben eine neue Realität erschaffen. Weltweit. So wie wir es vorher noch nie erlebten, sind sich Nationen – in Brasilien sogar Drogenbosse und Politiker – einig. Corona verlangt Distanz von Mitmenschen, vereinigt aber Kriminelle mit der Politik. Diese unerwartete, ungewohnte Harmonie ist vergleichbar mit dem seligen Blick auf eine Wiese voller Schafe ... die sich beim genaueren Hinschauen aber als Wolfsrudel in Schafspelzen entpuppen. Und sollten es Schafe sein, teilen sie das Gras?

 

Zweifel oder sogar Kritik an den Massnahmen im Kampf gegen das C-Virus werden selten nur belächelt, sondern mit Unverständnis gestraft. Statistiken werden als Gegenwehr und für «komm zur Besinnung»-Parolen gebraucht. Fast so als hätte man Menschen rekrutiert, die unnötig auf Hilfspolizisten machen. Das krasse Gegenstück gibt es natürlich auch. Auf jeden Fall scheint es so, dass zu alten Gewohnheiten zurückzukehren, genauso wie ein Alltag ohne das alles infizierende Thema, in weite Ferne gerückt ist. Keine Grillparty ohne Corona (nicht das Bier). Kein Smalltalk, keine Anlässe, kein Kafi-Höck, kein Geburtstag, keine Beerdigung – keine Begegnungen mehr, ohne, dass die Krone nicht ihren Tribut fordern würde.

 

«Ich bin nicht verrückt. Meine Realität ist nur ein bisschen anders als deine.» Alice im Wunderland

 

Lewis Carrolls «Alice im Wunderland» beschreibt die wundersam-skurrillen Erlebnisse der kleinen Alice. Die Geschichte widerlegt die Vorstellung, dass die Erwachsenenwelt, mit ihren zum Teil fragwürdigen, moralischen Prinzipien das Modell sei, dem die Welt der Kinder angepasst werden müsse. Obwohl die Traumwelt von Alice zwar nicht perfekt ist und mit Gefahren aufwartet, meistert sie alle Herausforderungen dank ihrer Unvoreingenommenheit und ihres eigenen, kindlichen, aber unverstellten Urteilsvermögens. Alice enthüllt in ihrer direkten, unbekümmerten Art schonungslos die Egoismen, Lebensängste und Gewalttätigkeiten erwachsener Menschen.

 

«Das Unmögliche zu schaffen, gelingt einem nur, wenn man es für möglich befindet.» Alice im Wunderland

 

Vielleicht ist jetzt eine Zeit, in der wir unsere Welt viel mehr mit den Augen von Alice betrachten sollten. Trotz neuen Herausforderungen und Gefahren, die schon immer da waren, ist unser Planet ein Wunderland. Ein Wunderland, das immer wieder aufs Neue entdeckt werden will. Mit den Schablonen der Erwachsenenwelt erschaffen wir eine Gegenwart, die jeglichen Spieltrieb verliert und sich von der Angst der Bevölkerung nährt. Der Versuch, Dinge unvoreingenommen und kindlich zu betrachten, ist nicht naiv, sondern verspielt. Und diese Welt ist ein Spielplatz voller Möglichlichkeiten. Ein Wunderland eben.

 

Und wir haben noch nicht annähernd herausgefunden, wie tief das Kaninchenloch wirklich reicht ...

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 2
  • #1

    Brischitte (Dienstag, 04 August 2020 20:52)

    Drum hani mir ganz viu gäubi Farb kouft, springe em wiisse Chüngu hingernache uf dr Suechi nach dr Härzdame, wo die rote Pille versteckt. Es hinkt, aber du verzeihsch mir sicher � Wunderbar gschriebe hesch das!

  • #2

    Jwan (Mittwoch, 05 August 2020 11:19)

    Daaaanke vielmal!
    Die gälbi Farb füehrt de wahrschinlech nach Oz... aber o das isch äs zouberhafts Land u wartet mit Wunder uf.