Ein weiteres Jahr neigt sich dem Ende ...
Kann man über das vergangene Jahr schreiben, ohne das alleseinnehmende Thema auszulassen? Das würde dem Jahr wohl nicht gerecht werden. Menschen haben, wie selten in unserer Zeit, das Gleiche erlebt. Weltweit. Und doch hat Lady Corona alle Menschen auf andere Weise berührt. Viele haben im Lockdown neue Hobbies entdeckt oder alte wiedererweckt, andere haben mit der vielen freien Zeit nichts anzufangen gewusst. Viele Menschen blieben immer an der Front und hatten gerade dann, wenn andere ruhten, die intensivste Zeit. Die Massnahmen des Bundes und der Regierungen in aller Welt, haben die Bürger, die Menschen, verwandelt. Jeder einzelne hat für sich eine Rolle entdeckt oder gewählt ...
Das Jahr hat Menschen getrennt, andere zusammengebracht. Dankbar wurde der Schlummer, der sich über die Welt gelegt hat, angenommen. Leider brauchte es den Dornröschenschlaf wohl für jene, die nicht spüren, wann es genug oder zuviel ist. Eine Auszeit braucht es immer wieder mal. Die Balance finden, ohne Vorschriften oder Empfehlung, gäbe uns die Natur aber schon lange vor. Die Jahreszeiten zeigen uns durch Pflanzen und Tiere, wie es geht. Man muss nur Hinsehen. Mit Intuition, Instinkt und im Dialog mit sich selbst.
Jedes Jahr erschafft für sich eine Metapher, die sich erst an den letzten Tagen – dem Ausklang – offenbart.
Das Jahr 2020 ist ein Raubtier.
Die wissenschaftliche Bezeichnung für Raubtier ist «Carnivora». Es setzt sich aus den lateinischen Begriffen «caro», «carnis» (Fleisch) und «vorare» (verschlingen) zusammen.
Für viele ist das Jahr 2020 aber auch ganz schlicht ein Scheissjahr. Sie möchten es aus den Chroniken streichen. Im chinesischen Horoskop steht die Ratte für das vergangene Jahr. Die Assoziation, die wir zur Ratte pflegen, sagt daher auch schon so einiges aus ... dabei sind Ratten intelligente und niedliche Tiere. Die Metapher «Raubtier» für das Jahr 2020 passt aber besser.
Wenn wir einen Tiger sehen, sei es im TV, im Zoo oder im Idealfall in der freien Natur, sind wir fasziniert. Fasziniert von seiner Anmut, seiner Eleganz, Wildheit, Kraft und Schönheit. Beim Betrachten eines Tigers schwingt aber auch immer das Wissen mit, dass wir seine Beute sein könnten. Wenn ein Tiger mit seinen grossen Pranken bei jedem Schritt Staub aufwirbelt, seine aufmerksamen Augen nie von uns lässt, können wir kaum erahnen, was seine nächste Bewegung sein könnte ...
Legt er sich hin und beginnt gemütlich sein Fell zu lecken ... verliert er das Interesse und dreht sich einfach um ... sucht er sich einen Schlafplatz ... beobachtet er uns weiter ... oder springt er uns aus seiner vermeintlichen Ruhe an?!
Das Jahr 2020 hat all das getan. Es hat geruht, geschlafen, hat das Interesse verloren, war aufmerksam und gefrässig. Es war hungrig. Es hat gefressen. Ohne Rücksicht. Wie ein ausgehungerter Tiger, der sich nimmt, was er vor seine Krallen kriegt.
Jedes andere, vorherige Jahr könnte auch schon ein Raubtier gewesen sein?
Vielleicht waren wir einfach näher dran, als sonst? Für manche Menschen blieb der Tiger hinter Glas, isoliert. Auf Distanz. Anderen stand er direkt gegenüber, hat geknurrt und die Zähne gefletscht. Dem Jahr 2020 hat sich niemand auf die selbe Weise gestellt.
Man kann einen Tiger einsperren und nach Zeitplan füttern. Man kann ihn anketten und mit Beruhigungsmitteln in den Schlaf zwingen. So sehr wir aber auch versuchen, einen Tiger zu kontrollieren – sein Instinkt und Freiheitsdrang wird ihn immer unberechenbar machen.
Vielleicht stellen wir uns dem Raubtier, in dem wir unserem eigenen Instinkt bewusst werden?
Vielleicht können wir von der innewohnenden Unzähmbarkeit eines Tigers lernen, dem nächsten Jahr – sollte es wieder ein Raubtier werden – ebenfalls mit der Achtsamkeit der schönen Grosskatze zu begegnen?
In diesem Sinne wünsche ich für das neue Jahr, Instinkt und Biss ... und natürlich:
Das «Auge des Tigers».
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Marlis Ammann (Dienstag, 05 Januar 2021 10:50)
Es ist immer wieder ein Genuss, deine Texte zu lesen!
Vielleicht wirst du mal noch ein berühmter Autor? Vielleicht ein neuer Weg? :-)
Ich hoffe, unsere (neuen) Wege kreuzen sich bald einmal wieder...
LG Marlis