DIEBIN.

Es war an einem Donnerstag, als sich die Diebin entschied, nicht mehr zu stehlen. Nie mehr.

 

Sie hätte sich dafür auch an einem Dienstag, Mittwoch oder an einem der übrigen Tage entscheiden können. Der Donnerstag schien ihr passend. Nicht am Anfang, nicht in der Mitte und nicht am Ende der Woche, sondern am perfekten Tag. Die Diebin dachte kurz nach, und befand, dass doch rechnerisch eigentlich der Donnerstag genau in die Mitte der Woche fiel ...!? Den Gedanken liess sie aber genauso ziehen, wie ihren Drang zum Stehlen. Sie hoffte zumindest innigst, dass sie diesem Drang nachgeben konnte. Sie wünschte es sich. Die Tatsache, ihr ganzes Leben lang eine Diebin sein zu müssen, missfiel ihr nämlich nicht nur, sie hasste es sogar.

 

Schon seit sie ganz klein war, war sie eine Diebin. Es wurde ihr in die Wiege gelegt. Sozusagen. Sie kannte nichts anderes. Sie musste einfach stehlen. Punkt. Eigentlich war es genau genommen ihr Job. Ihre Aufgabe. Ihre Bestimmung. Sie war nicht die einzige Diebin. Es gab unzählige wie sie. Aber sie gehörte zu den Besten. Das war auch der Grund, warum sie die Absicht, ihre glanzvolle Karriere an den Nagel zu hängen, für sich behielt. Vorerst.

 

Die Diebin huschte über die Dächer der Stadt. Wie schon so oft, wenn sie auf Beutejagd war. An einer Fensterfront blieb sie stehen und betrachtete ihr Spiegelbild. Würde man sich so eine Diebin vorstellen? Gibt es überhaupt ein passendes Profil? Eine Maske und ein Brecheisen? Nein. Heute sind Diebe viel eleganter, unscheinbarer und oft klauen sie nur noch digital. Die Hände werden heutzutage weniger schmutzig als das Gewissen ... falls dies der moralische Kompass überhaupt zulässt. Ansonsten würde man ja nicht stehlen. Jedenfalls brauchte sie ihr schönes Gesicht nicht mit einer Maske zu bedecken, denn auch Überwachungskameras vermochten es nicht, sie zu erfassen ...

 

Sie bestahl Menschen. Unzählige. Ihr Diebesgut gehört zu den kostbarsten Gütern auf der Welt. Einerseits sehr fragil und andererseits beinahe unverwüstlich. Die Diebin konnte sich an jedes Gesicht der vielen Menschen erinnern, die sie bestohlen hatte. Sie bestahl nicht nur Reiche, sondern auch die Ärmsten. Kinder, Kranke, Schwangere, Witwen, Verlassene und alte Menschen. Sie hatte keine Moral und keine Skrupel. So wurde sie ausgebildet. So hat sie es gemacht. Bis an jenem Donnerstag. Heute.

 

Die traurigen Gesichter der vielen Menschen, die sie gesehen hat, konnte sie nicht länger ertragen ... auch nicht die unzähligen Leben, die sie mit ihrem Raub beeinflusst und verändert hat. Es war an der Zeit zurückzugeben.

 

Die Diebin musste sich weder verstecken, noch in den Schatten bewegen. Sie musste ihre Raubzüge nicht im Schutze der Nacht planen. Weder verschlossene Türen noch die besten Sicherheitssysteme konnten sie aufhalten. Manche Menschen verspürten ein leichtes Schaudern, ein Unbehagen, wenn sie ihnen gegenübertrat ... aber sehen, konnten sie sie nicht. Wenn die Diebin in ihre Herzen griff und das kostbare Stück entnahm, veränderten sich die Menschen augenblicklich. Es war nur eine sanfte Veränderung im Gesicht, in den Augen ... die Seele wurde erschüttert. Es waren immer nur kleine Stücke, die die Diebin entnahm. Immer wieder. Kleine Lichter. Immer in Momenten, wo diese Lichter so wichtig waren ...

 

Sie war eine Meisterin in ihrem Handwerk. Jahrhundertelang.

Doch nun wollte sie endlich wissen, was sie bewirken konnte, wenn sie die kleinen Schätze – die Lichter – wieder in die Herzen der Menschen zurückbrachte. Denn die Lichter gehören zu den kostbarsten und kraftvollsten Gefühlen überhaupt ...

 

Hoffnung.

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