Kontraste.

Ich stehe am Anfang eines Feldweges und laufe los.

Die bewirtschafteten Felder erstrecken sich über weite Flächen. Von Wohnsiedlungen bis hin zu entfernten Wäldern. An all diesen Enden warten andere Orte, andere Geschichten. Was liegt dazwischen? Unter mir knirscht der Kies bei jedem Schritt. Manchmal wechsle ich auf die Grasnarbe, die in der Mitte des Weges liegt, um leiser zu sein. Leise an einem stillen Ort.

 

Während ich laufe, scheint die Sonne. Zwischendurch weht ein angenehmer Wind. Plötzlich kommen Gedanken auf. Ich will nicht denken. Es denkt mir. Es denkt mich. In den letzten Monaten ist viel geschehen. All diese Ereignisse tauchen auf wie versunkene Leichen, die geborgen werden wollen. Dabei ist gerade jeder neue Tag voller neuer Eindrücke und Momente. Im Jetzt passiert genug, so dass ich nicht über Vergangenem oder Zukünftigem brüten müsste. Und trotzdem denke ich. Zerdenke ich. Die geernteten Felder haben kaum Fixpunkte. Alles ist fern. Die Wälder. Die Berge. Nichts, in denen sich meine Gedanken verheddern könnten. Nichts, wo ich sie einfach loslassen könnte... 

 

Die Gedanken häufen sich. Sie beginnen sich ineinander zu verflechten. Sie werden ein grosses, unförmiges Ding, das meinen Kopf ausfüllt. Der grosse Gedankenkomplex wird so schwer, dass er in mich zu fallen droht. Aus dem Kopf direkt in die Seele.

 

In diesem Moment, wo einzelne Gedankenteile bereits abbröckeln und in meine Tiefe fallen, nehme ich im Augenwinkel etwas wahr. Ein Rotmilan. Der schöne Raubvogel hat im Acker wohl gerade sein Gefieder gepflegt. Gut getarnt ist er mit der Landschaft verschmolzen. Meine Anwesenheit schreckt ihn auf. Mit starken Flügelschlägen steigt er hoch. Immer höher. Als er die richtige Flughöhe erreicht hat, lässt er sich gleiten und zieht weiter. Fasziniert beobachte ich das stolze Tier. Die Färbung seiner Federn. Seine Silhouette, die im Himmelblau einen Kontrast zeichnet. Wundervoll.

 

Bevor meine Gedanken in mich fallen konnten, hat sie der Rotmilan mit seinen Flügelschlägen aufgewirbelt und mit starken Krallen weggetragen. Mit dem Wind. Es ist nur noch dieser Moment. Jetzt. Danke.

 

Ich sitze im Zug.

Ich schaue aus dem Fenster, das mein noch müdes Anlitz nur schwach spiegelt. Die Geschwindigkeit des Zuges verwischt die im Morgenlicht getränkte Landschaft wie ein mit zuviel Farbe gemalenes Aquarellbild. Die meisten Leute im Zug sitzen in Erwartung der Ankunft. Irgendwie sind sie gar nicht da, sondern bereits dort wo sie sein möchten. Sein müssen. Der Zug ist eine ortlose Zwischenwelt voller Unangekommener.

 

Die Einfahrt im Hauptbahnhof bewegt die Menschen zu den Türen. Ungeduldig scheinen sie auf deren Öffnung vor der pünktlichen Einkunft zu hoffen. Der Anschlusszug, der nächste Termin drängt. Die Türen öffnen sich. Die Menschen eilen los. Nur wenige müssen sich orientieren. Die meisten steuert die Alltagsroutine. Wie einer Schafherde gleich, drängen sich die Menschen durch den Bahnhof. Getrieben von Pflicht und Zeit statt Schäfer und Hunden.

 

Andere Züge haben andere «Herden» ausgespuckt, die ebenfalls durch den Bahnhof hetzen. Es scheint, dass es etwas Extremes, etwas Unvorhergesehenes oder Ungeplantes bräuchte, um die Leute ab ihrem vorgegebenen Pfad zu bringen. Sie nehmen hin, aber nicht wahr. Der Bahnhof ist ein Ort der Ankunft aber keiner zum Verweilen. Überall sind Uhren, aber niemand hat Zeit.

 

Gedanken flackern auf, manifestieren sich aber nicht. Meine Wahrnehmung ist hochaktiv. Ich sehe Gesichter. Augen. Die meisten schauen durch mich hindurch. Menschen ziehen vorbei. Wie ein Schwarm kreuzen sich unsere Wege. Fragmente von unzähligen Leben. Die Gedanken haben keine Zeit, sich in mir aufzubauen. Die Eindrücke reissen sie mit, bevor sie eine Form finden. Krallen sie sich an den vorbeiziehenden Reisenden fest? Nisten sie sich in anderen Köpfen ein? Verlieren sich meine ungeborenen Gedanken im kollektiven Bewusstsein? Ich weiss es nicht.

 

Die Gedanken finden an diesem Ort keinen Platz… keine Zeit... weil es aber für alles andere auch keinen Platz und keine Zeit hat.

 

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