Präsens.

Früher Morgen. Quartierstrassen. Die Rückseite der Stadt. Es ist still.

 

Still von Menschen. Die Natur macht Musik. Der Wind bringt die jungen Blätter zum rascheln. Die Vögel zwitschern ihre Melodie und besingen den neuen Tag. Vor dem Eingang eines Häuserblocks steht mit Strassenkreide gekritzelt in grossen bunten Lettern «ZUHAUSE BLEIBEN». Die farbigen Asphalt-Kreationen bringt man eigentlich mit lustigen Zeichnungen und kindlich-verspielten Botschaften in Verbindung. Der von Kinderhand geschriebene Aufruf «Zuhause bleiben» ergibt ein eigenartiges, ungewohntes Bild. Verlorene Unschuld.

 

Bilder wie diese regen Gedanken an ... sie setzen Geschichten in Bewegung, die sich aus Fragmenten erschaffen. Mit Bruchstücken und Splittern entsteht ein verzerrtes Bild, eine Möglichkeit, eine verwaschene Zukunft. Gedanken werden vom Konjunktiv heimgesucht. Alles fällt in den Bereich des Möglichen ...

 

Hätte ich ...

Sollte ich nicht noch ...

Müsste man nicht viel mehr ...

Ich dachte, man könnte ...

Hätte man es kommen sehen können ...

Wenn man nur wüsste wie es ...

 

Das «was wäre wenn» kann sich in die verschiedensten Situationen einschleichen. An jeder Kreuzung, jedem verpassten Zug und jeder Entscheidung verbirgt sich die andere nicht gewählte, ungelebte Möglichkeit. Die Quantenphysik beschreibt die Existenz von Parallelwelten ... das Multiversum. In anderen Zeitebenen könnten daher die «verpassten» Entscheide eine eigene Realität haben und ebenfalls gelebt werden. Eine spannende Theorie, die sich mit dem Konjunktiv schmückt, ja sogar brüstet. 

 

Gerade in der «Zeit der Krone» fällt vieles (alles) in den Zustand des Möglichen. Unsicherheiten werden genährt. Man verliert sich in Prognosen und Annahmen ... Statistiken und Vorgaben ... Einschränkungen ... Tatsachen ... Verbote ... Empfehlungen ... das Volk schaut hinauf zur hohen Instanz und hat Erwartungen. Wer erwartet was? Wer positioniert sich wo? Wem gefällt der neu strukturierte, verstaatlichte Alltag? Wer will das unsichtbare Gefängnis aus Gesetzen zerschlagen? Wer denkt, dass alles wieder so wird wie früher? Was war früher? Wann genau ist früher? Wer denkt an «danach»? Wann ist «danach»?

 

Wie verändert wird unsere Gesellschaft sein ...?

Fragen über Fragen. Möglichkeiten. Gedanken ...

 

Gedanken können ein Eigenleben entwickeln. Wie ein wildgewordener Mustang galoppieren sie durch unser Gehirn wie über eine Wüstensteppe und können dabei eine Menge Staub aufwirbeln. Entweder lassen wir sie ziehen und am Horizont verschwinden, oder zücken unser Lasso und reiten sie zu – Yeehaw! Loslassen oder sich stellen. Denken aber nicht zerdenken.

 

Sich in Eventualitäten zu verlieren ist anstrengend. Es ist ein Zustand der in der Vergangenheit oder der Zukunft geschieht. Sozusagen in einem gelesenen oder ungelesenen Buch. Wirklich leben kann man die Geschichte immer nur währendessen man sie liest. So wie gerade in diesem Augenblick. Die Farbe ist intensiv, wenn man sie betrachtet ... der Duft verführerisch, wenn man ihn riecht ... der Kuss zärtlich, wenn man ihn spürt ... die Liebe stark, wenn man sie fühlt ...

 

Alles hat am meisten Kraft im gelebten Moment.

Präsens. Jetzt.

 

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